Donnerstag, 13. August 2020

Geduld, Zeit, Glaube, Hoffnung

Meine im vorherigen Post geäußerten Bedenken hinsichtlich eines Praktikums auf der ITS waren zwar nicht unbedingt 'Wind um Nichts', aber dennoch stellte sich die ganze Problematik viel unkomplizierter dar, als ich es erwartet hatte. Der Chefarzt machte kurzen Prozess, nahm mich mit in ein Patientenzimmer, drückte mir ein Stethoskop in die Hand: "So, untersuchen Sie mal!" Ich sag mal so - der Rollstuhl war dabei nicht das entscheidende Hindernis, eher meine mickrige Fachkompetenz, was die Untersuchung eines Intensivpatienten angeht. Aber der Arzt fand meine halbherzige Auskultation in Ordnung und war nun der Meinung, dass eine Famulatur als Rollstuhlfahrer auf seiner Station doch machbar wäre. Allerdings haben sich meine Pläne jetzt nochmal ein bisschen verändert, sodass ich dieses Praktikum auf die Winterferien verschoben habe. 

In diesen Ferien bin ich daher auf einer anderen Station gelandet. Vielleicht leide ich an einer seltenen, bisher unentdeckten Variante des Stockholm-Syndroms, denn seit meinem eigenen ersten Aufenthalt in einer Reha-Klinik ziehen insbesondere die Stationen für Querschnittgelähmte mein Interesse in besonderem Maße an. Momentan absolviere ich eine Famulatur in so einer Klinik. Und ich finde es jetzt schon schade, dass ich in wenigen Tagen den obligatorischen Abschieds-Kuchen backen werde. Sonst habe ich mich meistens eher gefreut, wenn Praktika vorbei waren, aber hier würden mich zwei weitere Wochen definitiv nicht stören, ganz zu schweigen davon, dass genau diese Arbeit nun eine ernste Option für meine Zukunftsplanung darstellt. Aber Schritt für Schritt.

Besonders gefällt mir, dass in so einer Reha-Einrichtung die interdisziplinäre Zusammenarbeit - Ärzte, Pflegepersonal, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Psychologen, Logopäden, Sozialarbeiter und und und - so sehr im Vordergrund steht. Der Patient wird praktisch aus verschiedensten Blickwinkeln betreut und versorgt, um letztendlich eine größtmögliche Selbstständigkeit wieder zu erlangen. Man betreut seine Patienten in der Regel über einen recht langen Zeitraum und begleitet deren Fortschritte, welche hoffentlich zum Erreichen der für den jeweiligen Patienten möglichen Ziele führen.

In vielen Momenten fühle ich mich in meine eigene Zeit als 'frischer Querschnitt' zurückversetzt, logisch. Traurig macht mich das nicht, aber ich habe tatsächlich oft Mitleid mit den Patienten (darf man das überhaupt?), wenn ich sehe, wie schwer diese Umstellung und die neue Situation für sie ist. Und in diesen Momenten wird mir dann bewusst, wie viel man da eigentlich durchmachen muss. Für das Personal auf der Station ist der Umgang mit Querschnittlähmung und ihren Folgen alltäglich, aber neue Patienten müssen oft erstmal diese Hemmschwelle überwinden und das Schamgefühl ablegen, wenn sie mehrmals täglich von den verschiedensten Personen zu ihren Ausscheidungen befragt werden; wenn sie ständig nackt von fast jedem gesehen werden, der mal kurz ins Zimmer kommt und wenn sie generell in den aller intimsten Situationen Hilfe von Anderen benötigen. Natürlich versuchen die Mitarbeiter der Station möglichst die Privat- und Intimsphäre des Patienten zu wahren, aber letztendlich ist das nur eingeschränkt möglich. Und nicht nur physisch muss man sich in dieser schwierigen Zeit ständig nackig machen, auch im übertragenen Sinn hinsichtlich psychischer Belange wird einem oft ein kompletter "Seelenstriptease" abverlangt. 

Ich selbst habe dieses Schamgefühl, vor Ärzten/Pflegepersonal über irgendwelche intimen Körpervorgänge zu sprechen, recht weitgehend abgelegt, weshalb ich mir keine Gedanken mehr  großartig darüber gemacht habe, dass es den Patienten vielleicht schon Überwindung kostet. Ins Gedächtnis gerufen wurde mir dies nachdem ich einen Arzt zu einer Aufnahmeuntersuchung begleiten durfte und dieser mir im Anschluss sagte, dass er den Patienten (etwa in meinem Alter) in meiner Anwesenheit absichtlich noch nicht dazu befragt habe, ob seine Erektionsfähigkeit durch die Lähmung eingeschränkt ist, da der Arzt schon während des Gesprächs gemerkt habe, wie sehr sich der Patient vor mir schämte, über die Probleme zu sprechen, die ihm Blase und Darm bereiteten. Absolut verständlich. Man kommt selbst noch nicht mit seinem Körper und dessen verminderten Funktionen klar, hat nur im Kopf möglichst schnell wieder laufend die Klinik zu verlassen und soll sich dann vor jedermann (und vor allem auch vor jederfrau) vollständig entblößen, wenn man sich zumindest subjektiv wahrscheinlich am Tiefpunkt seiner Attraktivität befindet. 
Umso dankbarer bin ich im Nachhinein dafür, dass fast alle meine Ärzte in der Akutphase meiner Erkrankung Frauen waren und mich vor allem nie männliche Pflegekräfte versorgt haben; das wurde auf der Station damals direkt so geregelt. Das nimmt einem zumindest ein wenig das Schamgefühl.

Und jetzt, wo ich die ganze Sache mal aus der anderen Perspektive betrachten kann, wird mir erstmal klar, wie unangenehm es sein kann, einen Patienten zu erleben, bei dem medizinisch schon recht eindeutig ist, dass er nicht mehr normal laufen können wird, und der sich aber immer noch felsenfest an die Vorstellung klammert, es nach ein paar Wochen bis Monaten in der Klinik doch wieder laufend hinaus zu schaffen. Darunter zähle ich mein Vergangenheits-Ich auf jeden Fall auch. Es ist wirklich schwierig, in solchen Momenten die richtigen Worte zu finden, weil dem Patienten jede noch so vage Aussage bezüglich einer Prognose im Gedächtnis verankert bleibt. Ich kann mich auch nach fast 7 Jahren noch sehr genau an verschiedenste Aussagen erinnern, die Ärzte/Pfleger teilweise beiläufig von sich gegeben haben, ohne sich auch nur im Ansatz vorstellen zu können, wie sehr man einem Patienten damit Hoffnung gibt oder nimmt. 

Umso beeindruckter war ich heute von einem Patienten, der erst seit wenigen Wochen eine Querschnittlähmung hat und heute in der Visite sagte: "Ich weiß schon, am wichtigsten sind jetzt Geduld, Zeit, Glaube, Hoffnung." und damit hat er den Nagel auf den Kopf getroffen. Auch viele andere Patienten scheinen ihre Problematik überraschend rational und realistisch zu betrachten. Anders, als ich das von mir in den ersten Monaten in Erinnerung habe. 
Ich denke also, dass es am wichtigsten ist, den Betroffenen von Anfang an behutsam, aber verständlich und auch deutlich beizubringen, welche Ziele realistisch sind und welche nicht. Und dass man ganz genau aufpasst, was man sagt. Ein einfaches "Das wird schon alles wieder." beruhigt den Patienten für den Moment, aber lässt ihn eventuell im Nachhinein noch tiefer fallen, wenn er für sich selbst realisiert, wie seine "Chancen" stehen.

Vielleicht ist genau das die Fachrichtung, die nach dem Studium am ehesten zu mir passen würde. Ich weiß zwar nicht, ob es Patienten Hoffnung gibt, von einem Arzt im Rollstuhl behandelt zu werden - ich glaube, ich hätte das nicht so gut gefunden, weil ich generell nicht viel mit dem ganzen Rollstuhl-Kram am Hut haben wollte, aber vielleicht hätte es mir doch einen positiveren Ausblick in die Zukunft gegeben. Und abgesehen davon denke ich, dass ich doch einen kleinen Vorteil habe, wenn es darum geht, sich in die Betroffenen hineinzuversetzen und sich ihrer Probleme anzunehmen. Zum Glück habe ich noch ein paar Jahre Zeit, bis ich entscheiden muss, wo meine Reise hingehen soll.

Trotz all der positiven Aspekten hat so ein Praktikum als Rollstuhlfahrer unter Rollstuhlfahrern übrigens eine kleine Tücke: In der ersten Woche dachte gefühlt jeder Zweite, dass ich probehalber im Rollstuhl sitzen würde "nur um mal zu gucken, wie's so ist". Nee, nicht ganz..