Mittwoch, 18. Januar 2023

Stolz & Vorurteil

Es ist immer sehr authentisch, wenn man seinen Blog-Eintrag nach einem weltbekannten Roman benennt, den man selber nie gelesen hat. Trotzdem mach ich's, weil der Titel sehr gut zu den Dingen passt, die ich heute mal wieder von mir geben möchte. 

Nun habe ich zum ersten Mal seit 5 Jahren versäumt, am 20.12. meinen obligatorischen Da-wurde-ich-krank-Gedenkblogeintrag zu verfassen, aber ich hätte ehrlich gesagt auch einfach nicht gewusst, worüber ich hätte schreiben sollen. Für mich hatte sich hinsichtlich meiner Behinderung seit dem vorangegangenen Jahr nichts geändert - dachte ich zuerst. Irgendwie hat sich natürlich eine Art Plateau eingestellt, da es schon längst nicht mehr wie in den Anfangsjahren irgendwelche neurologischen Meilensteine gibt und ich wie von Zauberhand einen längst verschollenen Muskel plötzlich wieder bewegen kann - seien wir ehrlich, das wird auch einfach nicht mehr von sich aus passieren. Wenn ein Muskel über so einen langen Zeitraum (einfach schon 9 Jahre..) nicht regelmäßig einen Reiz über den ihn versorgenden Nerv erhält, zeigt der Körper seine ökonomische Seite und baut das Ding kurzerhand zu größtenteils Bindegewebe um und lagert Fett ein. Dieser Vorgang wird mitunter auch "fettige Degeneration" genannt, na schönen Dank auch. 

Als ich dann zur Zeit des Jahreswechsels ein bisschen genauer darüber nachgedacht habe, habe ich gemerkt, dass ich im letzten Jahr doch einige Verbesserungen zu verzeichnen hatte, auch wenn sie mir auf den ersten Blick gar nicht als so prägnante Meilensteine vorkamen, wobei sie letztendlich für mich und meine Lebensqualität aber eigentlich umso bedeutender sind. In der Physiotherapie haben wir schon seit geraumer Zeit den Fokus auf das Laufbandtraining und die Verbesserung meiner Stützkraft gesetzt, damit ich schlussendlich längere Strecken mit Krücken zurücklegen kann. Und genau dieses Ziel haben wir erreicht und darauf bin ich ein klitzekleines bisschen stolz. Zurückblicken kann ich im letzten Jahr daher auf richtig schöne Erlebnisse, die ich ohne diesen Trainingsfortschritt nicht geschafft und mir vor allem noch vor einiger Zeit niemals zugetraut hätte. Ich konnte mit Freunden barfuß im Ostseesand spazieren, einen norwegischen Gletscher aus der Nähe betrachten, auf mehreren Bergen in den Alpen unterwegs sein und habe endlich ein lang ersehntes Ziel erreicht und einen Sonnenaufgang von einem Berg der sächsischen Schweiz aus bewundern können, zu dem ich zu Fuß aufgestiegen war. Das alles war nur möglich, weil ich viel Unterstützung von Freunden oder Familienmitgliedern hatte, die nicht müde wurden mir den Rollstuhl irgendwelche Treppen hoch zu tragen, ihn ewig weit mit zu schieben (oder sogar auf dem Rücken zu tragen), weil ich Angst hatte, dass er sonst geklaut werden würde und die sich darauf eingelassen haben, in meinem Schneckentempo unterwegs zu sein. 

All das hilft mir natürlich auch im Alltag weiter - wenn ich die Stufen in Omas Haus mit Krücken reingehe, bin ich nicht darauf angewiesen mir von jemandem helfen zu lassen. Wenn ich meine Freundin im 3. Stock besuche, muss sie die anstrengendere Arbeit erledigen und den Rollstuhl tragen, während ich am Geländer nach oben laufe und so weiter. Um das mal in Zahlen auszudrücken: Vor etwa einem Jahr war ich sehr froh wenn ich es geschafft hatte, 6 Minuten auf dem Laufband zu gehen. Vor 2 Wochen haben wir dann die 60 Minuten Marke geknackt! Klar, wenn wir auf irgendwelchen Bergen unterwegs waren, waren wir auch länger als eine Stunde dort, aber da konnte ich zwischendurch stehen bleiben oder mich auf den Boden setzen, wenn ich eine Pause brauchte. Laufband ist für mich nochmal eine ganz andere Nummer. Ich glaube jeder kann sich vorstellen, dass es ein ziemlich gutes Gefühl ist, wenn man weiß, dass man in der Lage ist, eine Stunde unterwegs auf zwei Beinen auszuhalten. Danach waren meine Arme allerdings aus Pudding und ich schwitzte wie nach einem Saunabesuch, aber meine Ausgangssituation ist ja auch eine andere. Das nächste Ziel ist übrigens Fahrradfahren.

Aufgrund meines leicht entenähnlichen Ganges war es mir bisher ziemlich unangenehm, vor anderen Leuten zu laufen, was ich in letzter Zeit allerdings glücklicherweise auch etwas ablegen konnte. Es wär ja auch schön blöd, so atemberaubende Ausblicke zu verschmähen, nur weil auf dem Weg dahin irgendwer mein Gangbild komisch finden könnte. Und da sind wir auch schon beim Thema Vorurteil angekommen. Ich habe Vorurteile, dass Leute mir gegenüber Vorurteile haben könnten - hä? Oft habe ich den Eindruck, dass meine Situation in den Augen Anderer eher bemitleidenswert ist und sich mit mir meistens nur gefreut wird, wenn ich zeige, dass ich doch irgendwie laufen kann. Ich will aber mit den Erlebnissen, die ich genannt habe, nicht angeben oder bewundert oder beneidet oder bemitleidet werden, sondern zeigen wie schön und normal alles sein kann - ob nun auf vier Rädern oder mit 2 Krücken an den Armen. Ich möchte nicht die starke Persönlichkeit sein, die sich "zurück ins Leben kämpft", denn mein Leben ist bereits sehr lebendig. Ich freue mich einfach und bin sehr dankbar dafür, mittlerweile fit und auch mutig genug zu sein, Dinge zu unternehmen von denen ich lange geglaubt habe, dass ich nie wieder dazu in der Lage sein würde. Manchmal übersieht man sogar offensichtliche Fortschritte, weil sie sich anders zeigen, als man es sich selbst vorgestellt hat - umso schöner ist das Gefühl, wenn man sie dann doch endlich entdeckt.