Mittwoch, 15. Februar 2023

Überall nur Kranke!

Neulich war ich zampern. Nein, "zampern" ist kein Jugendwort des Jahres, sondern ein ursprünglich sorbischer Brauchtum, der jedes Jahr zur Zeit der Fastnacht in zahlreichen Dörfern der Lausitz zelebriert wird. Die Zampergesellschaft zieht dabei zusammen mit einer kleinen Blaskapelle von Haus zu Haus, erbittet Speck und Eier und legt ein Tänzchen mit den Hausbewohnern ein. Vor allem darf eines nicht fehlen: Schnaps. Jeder trägt an einem Band ein kleines Gläschen um den Hals und regelmäßig wird darin Hochprozentiges eingeschenkt. So auch letzten Samstag. In diesem Jahr wurde ich von der Familie einer guten Freundin eingeladen, in einem Dorf mit zu zampern, welches nicht mein Heimatort ist und mich dementsprechend auch niemand kannte. Als wir uns zu Beginn vor der örtlichen Feuerwehr trafen, wurde ich freundlich, aber zunächst etwas zurückhaltend begrüßt - kein Problem, das kenne ich ja schon. Wann geht schon mal jemand in einem fremden Dorf zum Zampern? Und Rollstuhlfahrer sind für Viele auch nicht so oft präsent. Für mich war an diesem Tag allerdings der Unterschied im Verhalten der Anderen mir gegenüber bevor und nachdem das Eis einmal gebrochen war (beziehungsweise die Hemmschwelle durch Glühwein & Goldkrone ausreichend gesenkt war) extrem deutlich. Es gab einen Punkt, da trauten sie sich plötzlich mir Fragen zu stellen und mir gefühlt 20 Mal anzubieten, mich zu schieben. Für mich ist der Umgang dann viel leichter, weil ich mich nicht mehr so fühle, als würden die anderen sich in meiner Nähe unwohl fühlen oder hätten Schwierigkeiten, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollen. Was mir an diesem Tag wieder aufgefallen ist und Anlass für diesen Text hier gab, war aber die Tatsache, dass Menschen die mich neu kennenlernen ganz oft dazu neigen, mir direkt ungefragt ihre eigene Krankengeschichte zu erzählen. 

"Unfall gehabt?" 

- "Nee, ich hatte eine Erkrankung, eine Rückenmarksentzündung."

"Ouuh, das ist ja schlimm. Steht mir vielleicht auch bevor, ein Leben in so einem Ding. Bandscheibenvorfall."

Ah, ok, noch stehst du aber ganz quietschfidel neben mir und scheinst die ersten 65 Jahre deines Lebens im Gegensatz zu mir aber auf zwei Beinen verbracht zu haben. Hab ich natürlich nur gedacht und nicht gesagt. Ich würde behaupten, dass ich mich gut in Menschen hineinversetzen kann und auch meistens viel Empathie aufbringe, wenn mir jemand sein Leid klagt. Aber man, warum? Genauso letztens im Zug. Ich lerne aktuell für mein zweites Staatsexamen und vor allem Zugfahrten nutze ich dafür ganz gerne. Bis mich eine Rollstuhlfahrerin neben mir ansprach, ob mein Rollstuhl faltbar sei und wo ich diesen herbekommen habe. Die Antwort wartete sie gar nicht so richtig ab, denn eigentlich wollte sie mir damit nur mitteilen, dass ihre Krankenkasse die Kostenübernahme für ihren Rollstuhl mehrmals abgelehnt hatte, sodass sie ihn mit Hilfe ihrer Familie selbst finanziert hat. Ohne zu fragen erfuhr ich in dem Zusammenhang ebenfalls ihre Krankengeschichte und Details aus ihrem Liebesleben. Die Bekanntschaft mit ihr war tatsächlich sehr nett und sie tat mir ziemlich leid, da sie wirklich schwer erkrankt ist und gerade eine verdammt schwere Zeit durchzumachen scheint. Und vielleicht haben diese Menschen auch einfach niemanden in ihrem Umfeld, der Gehör für ihr Leid findet. Ich frage mich bloß, warum mir in dieser Situation schon vorab ein offenes Ohr zugeschrieben wird. Weil ich so warmherzig und nett aussehe oder weil man sich denkt "Oh, die muss wissen wie es ist zu leiden!" ?

Erst heute hatte ich wieder eine Begegnung aus einer ähnlichen Kategorie. Ich war zum Lernen in der Stadtbibliothek und musste zwischendurch halt mal zur Toilette. Auf dem Weg dort hin bekam ich schon am Rande mit, wie eine ältere Frau mit Gehstützen einem Bibliotheksmitarbeiter von ihrer Gehbehinderung erzählte. In der Damentoilette angekommen durfte ich direkt wieder umdrehen, da Frauen in dieser Bibliothek irgendwie die Angewohnheit haben, gern auf die einzige Behindertentoilette zu gehen, selbst wenn direkt nebenan 5 (!!) freie Kabinen zur Verfügung stehen. Die ich allesamt nur schwer nutzen kann, weil die Türen so schmal sind. Gut, ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob die Dame heute vielleicht wirklich auf die Behindertentoilette angewiesen war, aber die letzten Male kamen immer Frauen ohne Rollstuhl mit erschrockenem Gesicht heraus "Oh, ich wusste nicht, dass sie warten; hätten sie doch mal geklopft!" Na klar.. Jedenfalls wollte ich den Raum zu den Toiletten gerade wieder verlassen und erschrak mit einem lauten "Huch!", weil direkt vor der Tür die vorhin erwähnte ältere Frau mit ihren Krücken stand und im Begriff war, die Tür zu öffnen. Ich hatte halt einfach nicht erwartet, dass dort jemand steht, man kennt's. Die Frau entschuldigte sich ausführlich, ich versicherte ihr, dass alles gut sei und sie lachte und deutete auf den Rollstuhl: "Überall nur Kranke! Aber ich kenn' das, mir geht's genauso wie Ihnen." Ähm, ich glaube nicht? Ja, ich definiere mich schon irgendwie stark über meine Behinderung, aber in erster Linie sehe ich mich nicht permanent als Kranke und fühle auch keine Connection, wenn ich andere "Kranke" im Alltag treffe...

Und wo ich doch gerade bei Situationen im Umgang mit mir bin, die mich im Nachhinein noch irgendwie ein bisschen aufregen, kommt hier jetzt noch ein ganz persönliches Schmankerl, über das ich noch nicht geschrieben habe, obwohl es wahrscheinlich eine der seltsamsten und irgendwie auch verletzendsten Aussagen mir gegenüber war. Es ist jetzt schon ein Jahr her, ich absolvierte ein Praktikum in einem allgemeinmedizinischen MVZ. Es war mein zweiter Tag, dementsprechend aufgeregt war ich noch und kannte die dort arbeitenden Ärzte nicht alle. In der Nachmittagssprechstunde sollte ich mich bei einer schon älteren Hausärztin mit ins Sprechzimmer setzen und bei der Versorgung ihrer Patienten hospitieren. So weit, so gut. Die Dame ist eine Hausärztin, die jahrzehntelang auf dem Dorf tätig war und ihre Patienten in drei Generationen kennt und genauestens weiß wer wie mit wem verschwägert ist und seit wann er welchen Blutdrucksenker einnimmt. Davor habe ich großen Respekt. Sie ist auch nicht auf den Mund gefallen und "traute" sich als Erste in der Praxis, mich auf den Rollstuhl anzusprechen. Ich merkte auch schnell, dass sie ihren Patienten gegenüber ebenfalls sehr direkt war: "Ich dachte das wäre nur die Jacke, aber Sie sind ja wirklich so dick." war nur eine der fragwürdigen Äußerungen, die sie im Laufe des Nachmittages traf. Jedenfalls lief es immer so, dass sie nach der Sprechzeit mit einem Patienten das Zimmer verließ um den nächsten Patienten aufzurufen. Dabei ließ sie die Tür offen stehen, sodass man mich vom Flur aus im Sprechzimmer schon sitzen sehen konnte. Und irgendwann begann sie, die Sprechstunde mit jedem Patienten beim Betreten des Zimmers damit zu beginnen, dass sie mit ausgestrecktem Arm auf mich zeigte und zum Patienten sagte: "Sehen Sie?! Auch Ärzten geht es schlecht!!" Sowohl keiner der Patienten als auch ich wussten darauf eine Antwort. 

Manchmal frage ich mich dann: Müsste es mir vielleicht schlechter gehen? Habe ich so einen niedrigen Anspruch an mein Leben, dass mich meine Einschränkung nicht so sehr stört, wie sie Andere scheinbar stört? Müsste ich mehr Kämpferin sein? Aber mein Leben ist kein Actionfilm mit Bruce Willis und ich will nicht permanent kämpfen oder leiden oder was auch immer von mir erwartet wird, sondern es ist mein Leben, das ich einfach möglichst genießen will. Handelt es sich um Aufgeben, wenn man so etwas Ähnliches wie Frieden mit sich und seinem Körper schließt? Ich finde nicht. Im Rahmen meiner Möglichkeiten versuche ich ja das Beste aus meinen erhaltenen Funktionen herauszuholen und würde mich in der Hinsicht auch als ehrgeizig beschreiben. Aber definitiv geht es mir - zum Glück - nicht so schlecht, dass ich fremden Menschen von meinen Problemen erzählen möchte oder als bemitleidenswertes Beispiel genutzt werden möchte, um Patienten zu zeigen, dass sie nicht die einzigen sind, denen es mal nicht gut geht. Ich glaube jetzt, ein Jahr später wäre ich selbstbewusst genug so eine Aussage nicht mehr wortlos hinzunehmen. Ich bin mir sicher, dass die Ärztin mich und meine Situation nicht explizit abwerten wollte, aber genau das hat sie damit getan. Es wird Zeit, dass solche Leute verstehen, dass das Leben von Menschen mit offensichtlichen körperlichen Einschränkungen bei weitem nicht zwangsläufig trauriger und weniger wert ist, als ihr eigenes.