Freitag, 1. September 2017

Geschichten zwischen Plattenbauten und Hundekacke

Im Januar 2014 ging es dann für mich nach fast 4 Wochen im Krankenhaus in die Rehaklinik. Es handelte sich dabei um eine neurologische Kinder- und Jugendreha. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was mich da erwarten sollte und habe meine ersten Eindrücke im letztens schon zitierten Notizbuch festgehalten. Wieder mal ziemlich weinerlich, aber so war ich damals (meine Eindrücke wirken wahrscheinlich ziemlich negativ; ich muss dazu sagen, dass ich mittlerweile wirklich positiv auf diese Zeit zurück sehe und mir viele Mitarbeiter und Mitpatienten gut in Erinnerung sind):

 24.01.2014

"Nach etwa vier - im Nachhinein fast 'schönen' - Wochen im Krankenhaus wurde ich in die Reha xy verlegt. Irgendwie fiel es mir sogar schwer, das Krankenhaus zu verlassen, weil ich mich dort mittlerweile irgendwie sicher fühlte und ich das Gefühl hatte, dass mich alle ins Herz geschlossen hätten. Die Ärztin und die zwei Schwestern, zu denen ich den besten Draht hatte, haben mir sogar ein Abschiedsgeschenk und eine Karte gegeben. Ich fand das so lieb, ich könnte immer noch heulen, wenn ich daran denke. [...] Tja, am Montag kam ich dann hier an. Erstmal der totale Schock. Ich begegnete nur auf dem Weg von der Rezeption bis in mein Zimmer so vielen Behinderten, wie in meinem ganzen Leben nicht. Und ich kann mit solchen Menschen leider nicht gut umgehen, so leid es mir auch tut [einfach Wahnsinn, wie anders ich damals noch gedacht habe]. Die erste Woche war ziemlich schwierig. Jedenfalls besitze ich (noch) allein ein Doppelzimmer.
Am späten Nachmittag erhalte ich immer meinen Therapieplan für den nächsten Tag. Meine Therapien sind bis jetzt Physiotherapie, Ergo, Rollstuhltraining, Kraftgruppe und naja, Anziehtraining. Natürlich nicht alles an einem Tag. Unterrichtet werden hier nur die Hauptfächer, weshalb ich Angst habe, die Zehnte wiederholen zu müssen. Außerdem äußerte die Physiotherapeutin, dass es möglich ist, dass ich im Hochsommer noch hier bin. Das ist viel zu lange! Ich hatte mir gewünscht, allerspätestens im Mai hier raus zu sein. Super. Jedenfalls bin ich meinen Dauerkatheter [bääh..] los und wir können am Wochenende kurze Ausflüge machen. 

Außerdem kann ich mich jetzt selbst im Bett umdrehen, allein mit einem Rutschbrett in den Rollstuhl rutschen und darf endlich wieder duschen. Zumindest etwas Positives."



Ja gut, ich gebe zu, die ersten Wochen in der Reha waren wirklich hart. Ich realisierte so langsam (und sehr unsanft), dass ich doch nicht so schnell wieder gesund werden würde und klammerte mich oft ziemlich verzweifelt an wirklich jeden Strohhalm, den ich fassen konnte. Zu allem Überfluss war die Klinik zwischen Plattenbauten und Hundekacke gelegen. Spazieren gingen wir immer auf dem nahe gelegenen Friedhof, das war der einzige wirklich schöne Fleck Natur in der Nähe.. Egal.

Es stimmt - ich hatte vor meiner Erkrankung nahezu überhaupt keinen Bezug zu Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen. Und dann sah ich in meinen damaligen Augen so viel 'Leid' auf einmal, das hat mich  wirklich runtergezogen. Ich wollte einfach partout nicht zu 'den Behinderten' gehören und mich auf keinen Fall in irgendeiner Weise damit identifizieren. Ich wollte nicht lernen wie man Rollstuhl fährt, wie man sich kathetert, wie man sich ohne Bein- und Rumpfmuskulatur anzieht und so weiter und so fort.. Glücklicherweise war und bin ich allerdings jemand, der meistens tut, was man ihm sagt und somit musste ich früher oder später anfangen zu lernen, wie ich wieder selbstständig werde. Die ersten drei Wochen war meine Mama mit in der Reha, was auch gut war, aber als sie weg war, fing ich endlich an, Kontakte zu meinen Mitpatienten zu knüpfen.

Und dann ging es bergauf. Meine Situation habe ich damals zwar bei Weitem noch nicht akzeptieren können; jedoch badete ich nicht mehr 24/7 in Selbstmitleid und fing wieder an, wirklich Spaß zu haben. Ich war auf einer Station, auf der größtenteils ältere Jugendliche und junge Erwachsene mit körperlichen Einschränkungen waren. Mit einem von ihnen bin ich heute noch befreundet und wir amüsieren uns auch jetzt, Jahre danach noch über einige sehr komische Situationen mit anderen Patienten. Man hat dort sooo viele verschiedene Menschen kennengelernt, das war teilweise auch echt interessant. Krankheiten oder Unfälle machen nun mal vor niemandem Halt, weshalb da sehr unterschiedliche Menschen aufeinander trafen. Einige Begegnungen hätte man sich sparen können; für andere bin ich wiederum immer noch sehr dankbar. Vieles hat mir damals die Augen geöffnet und ich habe gelernt, dass es mir bei Weitem nicht so schlecht geht, wie ich eigentlich dachte. Ein halbes Jahr habe ich in dieser Rehaklinik verbracht, das prägt einen schon irgendwie. 
Meine Hemmschwelle ist beispielsweise in dieser Zeit auch massiv gesunken. Mich haben so viele Menschen in ganz unangenehmen Situationen splitterfasernackt gesehen.. Das möchte man mit 15 echt nicht, aber who cares? Ging nun mal nicht anders. Heißt natürlich nicht, dass mir ähnliche Situationen nicht mehr unangenehm sind, aber es ist deutlich weniger unangenehm, als vor dieser ganzen Geschichte.

Nach einigen Wochen Reha durfte ich das erste Mal am Wochenende nach Hause, als ich eben so weit war, dass ich mithilfe meiner Familie auch außerhalb einer Klinik zeitweise klar kam. Von da an haben mich meine Eltern einfach jedes Wochenende nach Hause geholt und meistens am Montag vor den Therapien wieder zurück gebracht. 200 km pro Strecke! Ich weiß nicht, wie sie das geschafft haben, aber ich weiß, dass ich ihnen dafür wahnsinnig dankbar bin und vor allem war. Damals hat es mir viel geholfen, den Kontakt nach Hause zu halten und das Wochenende mit Familie und Freunden zu verbringen. Ich finde es gut, dass die Klinik dafür ihr Okay gegeben hat, weil ich mich dadurch langsam wieder an den Alltag zu Hause gewöhnen konnte und wir nach Lösungen für Probleme suchen konnten, die unser nicht barrierefreies Haus zum Beispiel so mit sich brachte.

Auch wenn es mir aus meiner damaligen Sicht wenig erschien, machte ich in diesem ersten halben Jahr viele Fortschritte. Zuerst lernte ich langsam, mich zu kathetern, mich irgendwann selbstständig zu duschen, mich anzuziehen und im Rollstuhl fortzubewegen. Anfangs hatte ich noch starke Schmerzen (keine Ahnung, ob das auch so neuropathische Schmerzen waren; wurde nie geklärt), wenn meine Beine bewegt wurden, weshalb sich Anziehtraining z.B. zu Beginn ziemlich schwierig gestaltete. Irgendwann hörten die Schmerzen jedoch einfach auf und mein Bewegungsumfang in den Beinen nahm wieder zu. Ich erinnere mich noch gut an eine bestimmte Nacht, ein paar Wochen nachdem ich in diese Klinik kam. Im Halbschlaf nahm ich wahr, dass ich meinen rechten Fuß plötzlich irgendwie bewegen konnte, aber war mir nicht sicher, ob ich träumte oder nicht. Am nächsten Morgen konnte ich total glücklich feststellen, dass es kein Traum war (ich dachte, der linke Fuß würde sicher auch bald 'nachziehen'.. Den kann ich aber tatsächlich bis heute absolut nicht bewegen ^^).
Nach und nach lernte ich, wie man mit - und bald auch ohne - ein sogenanntes "Rutschbrett" den Rollstuhl - Bett/Auto - Transfer hinbekommt, das ist nämlich echt schwer, ohne Beine und Rumpf einsetzen zu können. Mit vielen, vielen verschiedenen Therapien konnte ich nach dem halben Jahr meine Knie strecken und beugen, meine Hüfte beugen und meinen rechten Fuß etwas bewegen. Am Unterarmgehwagen konnte ich mit Unterstützung ein paar Schritte gehen. Für meinen Geschmack ging das alles viel zu langsam und ich hatte mir viel größere Fortschritte gewünscht. Meine Physiotherapeutin brachte mich aber oft schnell und unsanft auf den Boden der Tatsachen zurück und dafür bin ich ihr dankbar. Sie hat mich trotzdem immer weiter ermutigt und sich aufrichtig über meine Fortschritte gefreut. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht nur einfach ihren Job gemacht, sondern wirklich 'mitgefiebert' hat. Ich habe immer noch Kontakt zu ihr.



Cool war, dass einer der Sporttherapeuten ab und an mit einigen Patienten abends in eine andere Klinik zum Rollstuhlbasketball fuhr. Diese Sportart finde ich wirklich sehr interessant, ist aber nicht mein Ding, Werfen und Fangen konnte ich vorher schon überhaupt nicht gut. Aber ein paar Mal war ich auch dabei und sah erwachsene Querschnittgelähmte, die aus ihrer Lähmung kein großes Ding machten und einfach nur Spaß hatten. Für mich damals irgendwie unvorstellbar. Und so langsam realisierte ich, dass es wohl doch gar nicht sooo schlimm sein kann, 'zu den Behinderten' zu gehören.. 

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