Dienstag, 10. April 2018

8 Sekunden (Cyberdyne III)

Es war so weit. Auch ich durfte damit beginnen, in der futuristischen Atmosphäre im neurorobotalen Trainingszentrum in Bochum zu trainieren.

Jede Trainingseinheit dauerte eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde kontinuierliches Laufen mit dem Roboter auf einem Laufband. Klingt gar nicht mal so viel, war aber gerade anfangs absolut anstrengend. Vor und nach jedem Training wurde ein 10 Meter Gehtest absolviert, bei dem jedes Mal Schrittzahl und Zeit notiert wurden. Generell wurde das Training regelmäßig mit Videokamera und verschiedensten Tests dokumentiert.

Als ich mit dem Training begann, konnte ich schon relativ gut mithilfe von Gehstützen (Krücken) laufen; ich hatte also recht gute Voraussetzungen für die Therapie (vor allem auch Dank des intensiven Trainings mit meiner Physiotherapeutin in der Heimat!). Allerdings war die Akutphase meiner Erkrankung zu dem Zeitpunkt schon zweieinhalb Jahre her und die Erfolgschancen sind wohl bei den meisten Therapien größer, je frischer der Querschnitt ist. Aber trotzdem, ich war ziemlich guter Dinge.

Während der ersten Tage musste der Roboter erstmal auf mich eingestellt und alle Gurte etc an mich angepasst werden. Die ersten Trainingseinheiten waren so anstrengend, dass ich währenddessen zeitweise gar nicht sprechen konnte. Klar, ist normal beim Sport, aber wenn man mal darüber nachdenkt, dass es sich dabei "nur" um Laufen mit Unterstützung handelte.. Für Außenstehende wahrscheinlich nicht vorstellbar, dass das so viel Kraft kosten kann. Allmählich spielte sich das Ganze aber ein und ich hatte richtig Spaß am Laufen. Nicht zuletzt lag das an den durch und durch netten Therapeuten; ich hab mich wirklich richtig wohl gefühlt. Mein Gott, das klingt nach richtig schlechter Werbung, aber ich schwöre, dass es so war.

Es tat gut, sich täglich körperlich richtig anstrengen zu müssen und ständig motivierten mich kleine Erfolge. Zum Beispiel habe ich es anfangs Stück für Stück geschafft, meine Füße beim Laufen gerade nach vorn zu führen. Da die Außenrotatoren meiner Beine kaum ansteuerbar sind, ist es schwer für mich, meine Beine quasi achsengetreu zu halten oder nach außen zu drehen. Deshalb zeigten meine Fußspitzen bei der Therapie zum Anfang immer nach innen. Erstaunlich schnell konnten wir das aber kompensieren, was sich dann auch beim Laufen ohne Roboter zeigte. Das war so der erste sichtbare Erfolg, der sich einstellte.

Im Laufe der Zeit konnte ich dann auch noch nachweislich meine Stabilität beim Gehen und meine Gehgeschwindigkeit verbessern. Man läuft ja mit dem Roboter und ist zusätzlich noch in einen Gurt quasi "eingehängt", um das Körpergewicht etwas zu nehmen und das Laufen soweit zu erleichtern, dass man überhaupt eine halbe Stunde durchhalten kann. An den Seiten des Laufbands befinden sich jeweils eine Haltestange, auf die ich mich die ersten Wochen noch recht stark aufstützen musste. Irgendwann konnte ich jedoch auch problemlos eine Hand von der Stange loslassen, teilweise sogar für ein paar Schritte beide Hände. Klar, ich war immer noch eingehängt, aber diese Übung erfordere schon ein gewisses Maß an Stabilität, die ich im Laufe der Zeit durch das Training erreichte.
Besonders deutlich zeigten sich meine Fortschritte dann jedoch beim 10 Meter - Gehtest. Mein Becken "wackelte" nicht mehr so stark, ich lief deutlich mehr aufgerichtet als vor der Therapie und konnte meine Beine insgesamt wie schon erwähnt gerader nach vorn bewegen. Besonders eindrucksvoll zeigte sich die Verbesserung meiner Gehgeschwindigkeit. Bei meiner ersten Trainingseinheit lief ich die 10 Meter in 23 Sekunden. Meine Bestzeit lag später bei 8 Sekunden. Für mich schon ein beträchtlicher Unterschied.

Da das Training so gut lief, baten wir bei meiner Krankenkasse um eine Verlängerung um einen Monat. Ich bin froh, das Glück gehabt zu haben, diesen Monat tatsächlich bewilligt zu bekommen. Mir gefiel es gut in Bochum, das Traning machte Spaß, ich bekam ab und an Besuch und fuhr auch mal über's Wochenende in die Heimat. Ich freute mich, bis kurz vor Weihnachten mit dem HAL-Roboter Laufen zu können und war wirklich traurig mich von der Stadt, von "meiner" Wohnung, vom Training und vor allem von den lieben Menschen, die ich kennengelernt hatte, verabschieden zu müssen.
Während der Zeit bei Cyberdyne wurde ich von einem kleinen japanischen Filmteam begleitet, dass mich ein paar Mal beim Training besuchte und meine Fortschritte dokumentierte. Die Doku, für die dieses Material gedreht wurde, beschäftigt sich damit, wie in Fukushima (wo der HAL Roboter entwickelt wurde) nach der Katastrophe weiter gearbeitet und entwickelt wird, vor allem im Bereich der Medizintechnik. Interessantes Thema. Und wieder eine bereichernde Erfahrung mit total lieben Leuten, die ich nicht missen möchte.

Insgesamt hat mir das Training körperliche Fitness gegeben; ebenso ein besseres Gefühl für meinen Körper und vor allem Muskelzuwachs. Gemessen wurde dieser in regelmäßigen Abständen und besonders meine Oberschenkel nahmen an Umfang zu. Und ja, das waren Muskeln!
Wie schon erwähnt verbesserten sich ebenso mein Gleichgewicht, meine Stabilität und somit die Sicherheit beim Laufen und die Gehgeschwindigkeit selbst; wovon ich auch heute noch profitiere.
Allerdings hat sich das Training allein schon dafür gelohnt, dass all die Erfahrungen, die ich in Bochum machte, ausschlaggebend dafür waren, dass ich mit meiner Erkrankung so klarkomme, wie es derzeit der Fall ist. Ich würde mich auf keinen Fall als sonst wie reife, entwickelte Persönlichkeit beschreiben, aber diese Zeit hat mich wirklich wachsen lassen.

Ich weiß, dass das Training bewirken sollte, dass ich den Rollstuhl weniger brauche und vielleicht eines Tages wieder frei laufen kann. Natürlich wäre das nach wie vor wahnsinnig schön und erstrebenswert, aber ich habe durch diese Erfahrungen gelernt, dass es okay ist, im Rollstuhl zu sitzen. Dass ich auch so mein Leben selbstständig auf die Reihe kriegen kann. Dass ich vielleicht auch sogar einfach Medizin studieren kann.

Und vor allem, dass es nicht peinlich ist, wenn ein Mädel im Rollstuhl allein unterwegs ist (warum auch?!).

Und jetzt weiß ich, dass es absolut wichtig war, an diesen Punkt zu gelangen. Ich dachte immer, wenn ich akzeptiere im Rollstuhl zu sitzen, dann ist es vorbei. Dann komme ich da auch nie wieder raus. Eine Schwäche.

Nachdem ich die Tatsache jedoch weitgehend akzeptiert habe, fühle ich mich definitiv stärker als zuvor und seitdem traue ich mir auch mehr zu. Und genau das sind wohl die besten Voraussetzungen, für vielleicht irgendwann auftretende weitere Fortschritte.
Ich bin allen, die mich in dieser Zeit unterstützt haben, richtig dankbar - schnulz!

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