Freitag, 6. April 2018

Tief im Westen (Cyberdyne II)

Der Sommer nach meinem Abi verstrich und ich blendete irgendwie die ganze Zeit immer ein bisschen aus, dass es für mich Ende August 2016 schon nach Bochum gehen sollte. Klar, alle anderen fingen auch etwa zur gleichen Zeit mit Studium oder Ausbildung an und einige verschlug es sogar auf ganz andere Kontinente - aber trotzdem hatte ich echt Angst davor, alleine zu wohnen.

Zu Hause war ich seit ich im Rollstuhl saß nicht ein einziges Mal irgendwo allein. Ich hatte bis einen Tag vor meiner "Abreise" nach Bochum noch keinen Führerschein; bei uns fuhr kein barrierefreier Bus und Bahnen gab es in unserem kleinen Ort ja sowieso nicht. Ganz abgesehen davon, dass es mir zu diesem Zeitpunkt immer noch wahnsinnig unangenehm und peinlich war, selbst mit dem Rollstuhl unterwegs zu sein. Fast immer wurde ich von Freunden oder meinen Eltern durch die Gegend geschoben (mittlerweile ist es mir eher peinlich, geschoben zu werden).

Ich war damals seit meiner Erkrankung nicht ein einziges Mal selbst einkaufen; wusste nicht, wie ich Einkauf überhaupt transportieren sollte und wie ich von meiner Wohnung in die Stadt kommen könnte.

Kurz um: Ich fühlte mich absolut unselbstständig und nicht in der Lage, mein Leben alleine auf die Reihe zu kriegen. Und irgendwo schlägt sowas bei einer 18 jährigen dann ja schon auf's Gemüt. Freunde und Familie haben zwar versucht mir alles, was ich machen wollte, soweit zu ermöglichen, aber trotzdem wusste ich ja, dass das alles nicht von mir kam. Ich habe mich damals schon echt unnötig selbst eingeschränkt, so im Nachhinein betrachtet.

Trotzdem habe ich die Therapie in Bochum letztendlich einfach auf mich zukommen lassen. Anfangs war meine Familie noch ein paar Tage bei mir, um die wichtigsten Sachen zu organisieren und auszukundschaften. Wo ist die nächste barrierefreie Haltestelle? Wie komme ich mit der Bahn in die Stadt (Achtung, Landei)? Wo kann ich einkaufen? Kann ich den Einkauf auf meinem Schoß zu meiner Wohnung transportieren? Wie komme ich zur Therapie? Und so weiter.

Letztendlich war alles unkomplizierter, als es vorher schien. Gewohnt habe ich in einem Appartement, das die Firma Cyberdyne ihren Patienten zur Verfügung stellt. Eine aus meiner Sicht mehr als ausreichend große, perfekt barrierefreie und natürlich schon fertig eingerichtete Wohnung mit großem Balkon.

Die nächstgelegene Bahnhaltestelle war leider nicht barrierefrei, weshalb man "zu Fuß" eine Haltestelle weiter fahren musste. Bei gutem Wetter war das kaum ein Problem; ein bisschen Bewegung schadet ja auch nicht. Auf dem Rückweg musste man jedoch eine kleine Steigung überwinden und da ich damals noch mit meinem schweren Faltrollstuhl fuhr, verfluchte ich den Weg trotzdem das ein oder andere Mal. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Nicht weit von der Wohnung entfernt gab es gut erreichbar zwei Supermärkte und einen Drogeriemarkt, sodass ich meinen Einkauf auch nie über weite Strecken transportieren musste. Mit 'ner Einkaufstasche auf dem Schoß war das recht gut machbar und ich wusste schnell nicht mehr, warum ich mir darüber vorher so ausgiebig 'nen Kopp gemacht habe.

Zur Therapie wurde ich mit einem von meiner Krankenkasse bezahlten Fahrdienst gebracht. Luxus. Und auch kein riesiger Transporter mit Rampe und Piepen beim Rückwärtsfahren. Ganz normale, dezente PKWs. Perfekt für meine eitlen Ansprüche. Nein, wirklich, dieser Fahrdienst hat mir Einiges erleichtert und Begegnungen mit ziemlich netten Leuten gebracht.

In Bochum habe ich mich auch schnell eingefunden. Die Bars und Restaurants im Bermudadreieck wurden mit Familie und Freunden, die mich im Laufe der Zeit besuchten (merci), erkundet; ebenso der botanische Garten der RUB; der Kemnader See (im Sommer im Tretboot mit Melone); einige Parks in der Stadt; das Zeltfestival Ruhr und auch außerhalb Bochums die Städte Oberhausen, Düsseldorf, Köln und sogar Amsterdam.

 Ich lernte in der Zeit einige richtig liebe Menschen kennen; war zum ersten Mal in meinem Leben in 'nem Fußballstadion und überwandt mich irgendwann sogar, abends ganz allein zu 'nem Poetryslam zu gehen. Ohne Begleitung. Im Rollstuhl. Ein paar Monate vorher wäre das unvorstellbar gewesen.
Da ich trotz allem neben der Therapie relativ viel Zeit hatte und mich ja langsam mal orientieren musste, was meine Zukunft betraf, tat ich es Gianna nach und bewarb mich für ein Praktikum in einem Bochumer Unfallkrankenhaus. Passenderweise auf der Station für Rückenmarksverletzte. Dieses Praktikum war so interessant und gefiel mir so gut, dass es ausschlaggebend für meine Studiengangswahl war.

Durch diese Zeit habe ich nicht nur an Selbstbewusstsein gewonnen, sondern vor allem auch gelernt, mit meiner Behinderung besser umzugehen. Ich glaube, ohne diese Erfahrung hätte ich das nicht so gut geschafft.

                                          

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